Die Eroberung des Thüringerreiches durch die Franken zwischen 531 und $34 hat in der älteren Geschichtswissenschaft ein umfangreiches und kontroverses Schrifttum hervorgerufen. Man stritt sich um die Marschrouten der Heere, um die Lage der verschiedenen Schlachtorte und vor allem um die Beteiligung der Sachsen, von welcher die frühen fränkischen Quellen im Unterschied zur späteren sächsisch-thüringischen Geschichtsschreibung nichts berichten. Bei der Rekonstruktion dieses Ereignisses ging es deshalb immer wieder um die Trennung des historischfaktischen Kerns von der Spreu des bloß "Sagenhaften".
Eben darauf richtete sich das Augenmerk der Literaturwissenschaft, die in der mittellateinischen Chronistik bei Widukind von Corvey ein Stück "verlorener" Heldensage wiederfand, das zudem als das "einzige klare Beispiel für innerdeutsche Heldensage" gelten konnte, nämlich die sog. Iringsage. Teils fragte man, wie schon Jacob Grimm und neuerdings wieder Karl Hauck, nach dem Verhältnis von Heldensage und Mythos, wozu der "Iringsweg" und der Kult um Hathagat die Handhabe boten. Teils rekonstruierte man - gemäß dem Postulat Andreas Heuslers von der Tradierung der Heldensage in der festen Form der Heldendichtung - auch in diesem Falle ein nicht erhaltenes Heldenlied, ja man versuchte sich sogar an einer Nachdichtung in neudeutschen Stabreimen.
Die vorliegende Studie zielt nicht auf die Rekonstruktion des Ursprünglichen. Das primäre Interesse gilt weder dem historischen Kern noch dem Urlied, geschweige denn der Herkunft aus dem Mythos; es gilt vielmehr den jeweiligen Deutungen, den mannigfaltigen Brechungen eines historischen Ereignisses im Spiegel einer jahrhundertelangen Überlieferung, in welcher sich Schriftlichkeit und Mündlichkeit, Latinität und Volkssprache, Literarizität und Illiterarizität begegnen und wechselseitig aufeinander wirken. Diese für die germanistische Mediävistik zentrale Fragestellung soll hier auf die chronikalische Überlieferung zum Untergang des Thüringerreiches angewandt werden.
Author(s): Hilkert Weddige
Series: Hermaea. Germanistische Forschungen. Neue Folge, 61
Publisher: Max Niemeyer Verlag
Year: 1989
Language: German
Pages: VIII+224
City: Tübingen
Vorbemerkungen 1
I. Die historischen Rahmenbedingungen: Thüringen zur Zeit der germanischen Wanderungen und Reichsgründungen 5
II. Die fränkische Version des Thüringerkrieges 12
1. Venantius Fortunatus 12
2. Gregor von Tours und seine fränkischen Nachfolger 13
III. Der Thüringerkrieg in der sächsischen Stammessage 17
1. Rudolf von Fulda 17
2. Widukind von Corvey 23
3. Stammessage 31
IV. Der Thüringerkrieg in der Heldensage 40
1. Das Iringlied in der Paraphrase Widukinds 40
2. "Verräter": Iring im Vergleich zu Ganelon und Starkad 53
V. Iring-Zeugnisse vor Widukind von Corvey 63
1. Der Iringsweg 63
2. Heldensagennamen und Urkundennamen: Iringsage und adelige Hausüberlieferung? 68
VI. "Eigentümliche und lebendige Verschiedenheit der Sage": Mündlichkeit und Schriftlichkeit 78
1. Der Thüringerkrieg in den Quedlinburger Annalen 78
2. Die "Origo Saxonum" in der Weltchronik Frutolfs von Michelsberg und ihre Rezeption 85
3. Der Thüringerkrieg in der nordschwäbischen Herkunftssage und die Jagdanekdote 88
VII. Die Iringsage in der heroischen Dichtung 99
1. Der Weg ins Exil 99
2. Iring in der Klage und in den historischen Dietrichepen 103
3. Iring und Irnfrit im Nibelungenlied 106
4. Irung in der Thidrekssaga und Iring im Nibelungenlied 112
VIII. Die sächsische Stammessage zwischen Latinität und Volkssprache 119
1. Die Stammessage in Reim und in Prosa: Annolied, Kaiserchronik und Sächsische Weltchronik 119
2. Das Recht der "guden vorevaren": Zur Funktion der Stammessage im Sachsenspiegel 126
3. Zur etymologischen und genealogischen Ausweitung der sächsischen Stammessage im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit 130
IX. Die Iringsage in der Landesgeschichtsschreibung des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 141
X. Schlußbemerkungen 152
Anhang
I. Quellen zum Thüringerkrieg und zur Iringsage 163
1.Schreiben Theoderichs d.Gr. an König Herminafrid von Thüringen aus den "Variae" Cassiodors 163
2. Aus den "Libri historiarum X" des Gregor von Tours 164
3. Aus der "Translatio S. Alexandri" des Rudolf von Fulda 166
4. Aus den "Rerum gestarum Saxonicarum libri III" des Widukind von Corvey 168
5. "De origine Saxonum". Aus der Chronik des Frutolf von Michelsberg 177
6. Aus den "Annales Quedlinburgenses" 183
7. "De origine gentis Swevorum" 185
II. Illustrationen zur sächsischen Stammessage und zur Iringsage 189
Erläuterungen zu den Abbildungen 189
Abbildungen 193
Verzeichnis der Abkürzungen 201
Literaturverzeichnis 203
Register 216