Ein alter weißhaariger Mann im Profil, den Rücken leicht gebeugt, die rechte Hand klagend zur Stirn geführt, die Linke um einen Stock geklammert. Das Gesicht von Leid gezeichnet, zerfurcht, den Mund halb offen, das Auge leicht verhangen, als verschleierten Tränen den Blick. Ihm gegenüber, einer Statue gleich, ein schlanker hochgewachsener Krieger, nackt mit muskulösem Oberkörper, das bärtige Gesicht von einem großen Helm umrahmt. Ein Schwert an der Hüfte, in der rechten Hand die Lanze, am linken Arm den Schild. Ein ruhiger ernster Blick auf den alten Mann, nur den Kopf ihm noch zugewandt, den Körper bereits von ihm weg nach vorne gedreht, im Begriff sich abzuwenden, zu gehen. Es hätte der monumentalen Grabstele zwischen beiden Gestalten nicht bedurft, um den Sinn dieser Szene, das Leid und die Klage eines Vaters um seinen im Kampf gefallenen Sohn zu verstehen.
Das eben beschriebene Bild befindet sich auf einer weißgrundigen attischen Lekythos im Antikenmuseum Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, die 1983 aus Schweizer Privatbesitz erworben wurde. Es stellt in der Eindeutigkeit seiner Aussage, im leidenschaftlichen Ausdruck einer Gefühlsbewegung, in der Darstellung physiognomischer Züge im Gesicht des alten Mannes und nicht zuletzt in der Feinheit und Genauigkeit der Zeichnung ein einzigartiges Zeugnis weißgrundiger Lekythenmalerei dar, das neues Licht auf die ikonographische Entwicklung der Lekythenbilder und auf einen ihrer Hauptmeister werfen kann.
Author(s): Irma Wehgartner
Series: Winckelmannsprogramme der Archäologischen Gesellschaft zu Berlin, 129
Publisher: Walter de Gruyter & Co
Year: 1985
Language: German
Pages: 46
City: Berlin