Freie Menschen in freien Vereinbarungen: Gegenbilder zu Markt und Staat

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Der Mensch kann sich und seine Umwelt abstrahieren. Das heißt, er kann so tun, als stände er außerhalb seiner selbst und beobachte sich. Er kann überlegen, ob das sinnvoll ist oder nicht, was er gerade tut, getan hat oder tun will. Gleiches lässt sich zur eigenen Umwelt sagen – je sogar zu einer entfernten Umwelt, die gerade gar nicht direkt vor Augen steht. Der Körper, allen voran die Hände, bieten hervorragende Möglichkeiten, konkrete Ideen zur Veränderung der äußeren Erscheiungen auch umzusetzen. Der Kopf mit dem leistungsfähigen Gehirn spielt mit, das in sehr komplexen Handlungsabläufen zu tun. Nicht nur lässt sich so die Natur direkt verändern, z.B. kann ein Boden aufgelockert, Wasser umgeleitet oder Holz zu Papier werden. Es lassen sich auch nicht nur einfache Hilfsmittel herstellen, sondern mehr verschachtelte Vorgänge entwerfen, bei denen z.B. ein Werkzeug hergestellt wird, das ein Werkzeug herstellt, mit der eine Maschine hergestellt wird, die die Umgebungsbedingungen verändert. Selbst das ist noch recht einfach – kommen noch Kooperationen vieler Beteiligter und programmierte Algorithmen wie die Software von Computern hinzu, so entsteht ein sehr komplexer Ablauf, der am Ende die Auffassungsfähigkeiten der Einzelnen schnell übersteigt. Allerdings lassen sich wieder Hilfsmittel erzeugen, die die Steuer- und Überschaubarkeit von Vorgängen verbessern – oder verschlechtern. Die Grenzen menschlicher Gestaltungsfähigkeit sind also weit gesteckt und lassen sich ständig weiter dehnen. Die entscheidende Frage ist, wofür diese Fähigkeiten genutzt werden. Wohin wird die Produktivkraft gelenkt? Wie sehen die Entscheidungswege aus? Auf welche Weise entstehen Kooperationen, wie können Entwicklungen beeinflusst werden – und durch wen? All das kann nicht "wissenschaftlich" oder technisch entschieden werden. Wohl können für alle Entscheidungen dann wieder die passenden Hilfsmittel erstellt werden, aber die Richtung selbst ist eine politische. Eine, die den Menschen angeht und, aus emanzipatorischer Sicht, von ihnen ausgehen sollte. Zur Zeit dient gesellschaftliche Aktivität überwiegend der Steigerung von Profiten und der Kontrolle. Beide sind mitunter auch verbunden und bestehen wieder aus vielen Teilaspekten, bilden die dominanten Säulen gesellschaftlicher Organisation. Seit Jahrhunderten. Der lange Gewöhnungsprozess lässt sie wie Naturgesetze erscheinen, doch bei näherer Betrachtung sind sie mit allen verfügbaren Mitteln der Herrschaftsausübung durchgesetzt und immer wieder neu inszeniert – von formal begründeten Drohkulissen (Gesetze, Strafe) bis zu diskursiver Vermittlung. Emanzipation als Ringen um gesellschaftliche Bedingungen bedeutet also zunächst, die Metafrage immer wieder zu stellen. Es reicht nicht, nur über die technische Lösung der Energieversorgung, der Nahrungsmittelerzeugung, zu Medikamenten und ärztlicher Behandlung, zu Wissen, Kommunikationsformen und Entscheidungsfindung zu debattieren. Sondern zur Disposition steht die Frage, wie darüber entschieden wird – also die Eigentumsfrage, die Frage der Transparenz aller Abläufe, die Methoden der Entscheidungsfindung, ja sogar schon die Frage, wie über diese Fragen diskutiert und entschieden wird. Auch gehört dazu die Klärung, ob überhaupt etwas für alle festgelegt werden soll, was also Entscheidungen überhaupt bedeuten und nach sich ziehen.Schnell können schwindelerregende Höhen mehrfach verknoteter Gedankenstränge erreicht werden, die bei allem zu berücksichtigen sind. Denn soziale Gefüge sind hochkomplex. Einfache Einzellösungen werden ihnen selten oder nie gerecht. Daher sei eine der wichtigsten Schlussfolgerungen schon am Beginn genannt. Es wird keine neue Norm, kein neues Gesetz geben können, dass Emanzipation passgenau beschreibt und sichert. Nur der Mensch selbst, allein oder in der Kommunikation mit anderen, ist in der Lage, komplex wirkende Lösungen zu entwerfen und – da diese immer nur für den Moment gelten können – weiterzuentwickeln. Es gibt also keinen Anfang und kein Ende. Es gibt immer Alternativen, aber uns werden nicht immer alle einfallen. Fortschritt basiert daher auf der Offenheit der Gegenwart und der Reflexion, ob nicht noch Anderes oder Besseres möglich wäre. Das wiederholt sich nach jedem Schritt voran…

Author(s): Jörg Bergstedt
Series: Fragend voran…
Edition: 2. Auflage
Publisher: SeitenHieb-Verlag
Year: 2012

Language: German
Pages: 352
City: Reiskirchen
Tags: Anarchism

1 Intro: Inhalt 6
Vorweg 9
Worum geht es? 11
2 Grundlagen und Geschichte von Herrschaft – Geschichte sozialer Organisierung 14
Soziale Organisation als Grundform menschlichen Lebens 14
Wer macht Geschichte? Was prägt die Gesellschaft? 17
Emanzipation: Das Herrschaftsförmige aus den Beziehungen verdrängen 22
Masse… in Form gegossen: Wird aus Vielen Vielfalt? 29
Soziale Organisierung als Teil des Menschseins 29
Eine Menge von Menschen kann sehr unterschiedlich aussehen 29
In welcher Form leben wir? 38
Biologie und Kultur des Menschen bieten mehr 39
Plädoyer für Vielfalt ohne Hierarchie 40
Geschichte formaler Herrschaft 43
Normierung, Kontrolle und Sanktion im Wandel der Zeit 43
Was lange währt…: Die klassischen Formen formaler Macht 43
Neue Weltordnung: Modernisierte, formale Herrschaft 47
Erscheinungsformen institutionalisierter Macht 52
Kein ruhiges Leben ohne Verdrängung 56
Geschichte der Produktivkraft als ökonomische Unterdrückung des Menschen 57
Geschichtliche Entwicklung der Produktivkraft 59
Von der personal-konkreten zur abstrakten Vergesellschaftung 63
Ökonomische Zwänge, Abhängigkeit und Kapitalverteilung 66
Diskursive Herrschaft 70
Wie sich Traditionen, Normen und Wahrheiten einbrennen 70
Diskurssteuerung 73
Beispiele für Diskurssteuerung 74
Rollen und Zurichtung 81
Aufklärung: Demaskieren als Ziel 83
Wir, alle und die Stimmen des Ganzen 84
Repräsentation und Vereinnahmung 84
Schlussgedanke 88
3 Was sind Welt und Leben? 89
Der ewige Streit um Diesseits und Jenseits 90
Dynamische Materie in Selbstorganisierung 96
Materie im Wandel — an Beispielen 111
Wahrheit und Wahrnehmung 122
Was ist der Mensch? 137
Was prägt den Menschen? 137
Abhängigkeit, Geborgenheit, Losgelöstsein 148
Fluchten: Die Matrix der Geborgenheit 151
Statt Fluchten: Subjekt des eigenen Lebens werden 157
Selbstentfaltung 161
Egoismus als Antrieb 163
Wie geht’s? 166
Was hindert uns? 172
Autonomie & Kooperation 177
Wo Eigennutz und Gemeinnutz sich gegenseitig fördern 177
Autonomie und Kooperation 179
Beziehungskisten: Auf die Art der Kooperation kommt es an 182
Voraussetzungen für „Autonomie und Kooperation” 186
Der Weg zu Autonomie und Kooperation 189
Mensch – Natur – Technik 191
Mensch und Natur 191
Natur und Natürlichkeit 194
Naturnutzung als Allianztechnologie 196
Technik: Heilsbringer, teuflisch oder einfach nur Werkzeug? 200
Forschung und Forschungsfreiheit 204
4 Strategien 207
Die Brücke von der Theorie zur Praxis 207
Heute beginnen, nie aufhören 208
Emanzipation und Selbstentfaltung als offener Prozess 208
Fragend schreiten wir voran 215
Mut zur Vision bei kritischer Reflexion 215
Horizontalität und offene Systeme 217
Räume, Kommunikation und mehr ohne Privilegien 217
Verhandeln ohne Regeln und Metaebenen 218
Worauf ist dann noch Verlass? 224
Anwendungsfelder 227
Koordinierung und Kooperation 231
Auf der Metaebene der Gesellschaft 231
Zentrale Steuerung 231
Demokratische Legitimation 232
Räte 233
Die übersehenen Problem aller Modelle: Eliten, Ressourcen, diskursive Macht 238
Perspektiven 241
Ökonomie ohne Zwang und Unterdrückung 243
Herrschaftsfrei wirtschaften 243
Eine andere Produktionswelt ist möglich! 247
Klarstellung: Emanzipation ist etwas anderes als (Neo-)Liberalismus 252
Möglichkeiten und Grenzen dezentraler Wirtschaftsformen 253
5 Praxis: Experiment, Aktion und Alltag 258
Demaskierung des Herrschaftsförmigen in Verhältnissen und Beziehungen 258
Herrschaft abwickeln 259
Aneignung und Austeilen 261
Beteiligungsmöglichkeiten ausdehnen, Hemmnisse abbauen 262
Utopien entwickeln, benennen und vorantreiben 264
Experimente und Anwendungsfelder 265
Aktion: Öffentlichkeit und Widerstand 267
Gemeingüter und frei zugängliche Ressourcen 268
Commons, Open Access und der kleine Unterschied 268
Organisationsformen 274
Hürden und Hemmnisse 275
Beispiele für Commons und Open Access 277
Streit: Organisierte Vielfalt und Antrieb für den weiteren Prozess 285
Anbahnung von Kommunikation und Kooperation 285
Orte schaffen und Methoden „erfinden“ 288
Alltagstauglichkeit: Direkte Intervention üben 289
Umwelt und Ressourcen 291
Zentrale Steuerung oder Umweltschutz von unten? 291
Umwelt oder Mitwelt? 292
Flächen- und Rohstoffverbrauch 292
Fazit: Umweltschutz ist eine Machtfrage 296
Experimente und Aktionen 297
Über das Örtliche hinaus: Wie entsteht das Große? 300
Direkte und gesamtgesellschaftliche Kooperation 300
Beispiel Wasserversorgung 302
Energieversorgung 304
Beispiel Mobilität 307
Konversion: Das Neue aus dem Alten formen 308
Widerstand als utopisches Feld 310
Emanzipatorische Organisierung und Strategie 311
Widerstand… ohne sich an Machtkämpfen zu beteiligen 316
Und was heißt das praktisch? 319
Wer schafft den Wandel? 325
Anhang: Glossar 326
Literatur 347
Bücher und Materialien 351