Das Musikschrifttum des Mittelalters ist reich an Begriffen, die sich auf ‚gentes‘ oder ‚nationes‘ wie Itali, Suevi oder Angli beziehen und die Musik bestimmter kultureller Kontexte kritisieren, loben oder einfach beschreiben. Solche Textstellen sind zum einen aufschlussreich für die Tiefen- oder Vorgeschichte des musikalischen Nationalismus, zum anderen liefern sie wertvolle Hinweise auf die geografisch-politische Binnenstruktur der mittelalterlichen Musik, deren regionale Komponenten häufig unterbelichtet blieben. Doch die jeweilige Bedeutung der Nationes- und Gentes-Begriffe ist wegen der starken Interdisziplinarität der Fragestellung bislang nie systematisch untersucht worden. Das vorliegende Buch, das die Ergebnisse eines von der DFG geförderten Forschungsprojektes zusammenfasst, hat sich zum Ziel gesetzt, diese Bedeutung für sämtliche Belege des Musikschrifttums zwischen 800 und 1400, soweit möglich, freizulegen und dabei auch jeweils der Frage nachzugehen, ob, und wenn ja welche, konkrete realhistorische - musikalische oder politische - Anbindung die Verwendung der Gemeinschaftsbegriffe besaß. Dass eine solche Anbindung besteht, ließ sich sogar in mehr Fällen plausibel machen, als zunächst vermutet wurde.
Author(s): Frank Hentschel (ed.)
Publisher: Walter de Gruyter
Year: 2016
Language: German
Pages: 315
City: Berlin
Tags: Regional and National History; Europe; General European History; History; Topics in History; Cultural History; Music Theory and Methods
Vorwort
Inhalt
Einleitung
1 Bezug auf Sprachgemeinschaften
1.1 Der Graecus bei Aurelianus Reomensis: ein byzantinischer Griechischlehrer im Westen?
1.2 Zu den Griechischkenntnissen in St. Gallen um 900: die ellinici fratres bei Notker Balbulus
1.3 Die sprachgeschichtliche Bedeutung der Alemanni bei Notker Balbulus und ihre Umdeutung in der späteren Rezeption
1.4 Das Nordfranzösische und seine Sprecher im 13. und frühen 14. Jahrhundert: Gallici im Tractatulus de musica, bei Anonymus IV und Johannes de Grocheio
2 Kulturaustausch zwischen Byzanz und lateinischem Westen
2.1 Übernahme byzantinischer Kirchentöne: Graeci bei Aurelianus Reomensis sowie Autoren des 11. Jahrhunderts
2.2 Byzantinische Orgelschenkungen: Graeci in den Quatuor principalia
3 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken
3.1 Choral
3.1.1 Die „mos … veteranorum cantorum“ des Aurelianus Reomensis und die Stellung der gallikanischen Liturgie im Westfrankenreich des späten 9. Jahrhunderts
3.1.2 Politische Unifikationsbestrebungen im Konflikt mit der Wahrung lokaler Tradition: Gallia tota im Gedicht „Olim romulea“ (Montecassino 318)
3.1.3 Choraldialekte der Teutonici, Itali und Romani nach Theoger von Metz
3.1.4 Teutonici bevorzugen Sprünge, Langobardi stufenweise Melodik (Aribos De musica)
3.1.5 „Habitus“ und musikalische Spezifik regionaler Gemeinschaften: Hispani, Latini, Teutonici und Galli bei Guido von Arezzo und seinen Rezipienten
3.1.6 Zur „englischen“ Prägung des Tonale secundum usum ecclesiarum Anglie et Francie des Amerus / Alvredus
3.2 Verschiedene Bezüge
3.2.1 Transalpiner Kulturaustausch? Das Organum im Quintabstand bei den Itali und Suevi nach dem Anonymus codicis Pragensis
3.2.2 Die geografische Verbreitung der Memoriersilben Ut, Re, Mi, Fa, Sol, La: Angli, Francigenae, Alemanni und Itali bei Johannes dictus Cotto sive Affligemensis
3.2.3 Der Begriff Normannia bei Johannes de Grocheio
3.3 Mensuralmusik
3.3.1 Regionalspezifische Aspekte von Rhythmus und Notation nach Anonymus IV
3.3.1.1 Hispani
3.3.1.2 Angli
3.3.2 Die französische Praxis der „musica mensurabilis“ in Cathalonia
3.3.3 Rhythmische Neuerungen aus dem Königreich Navarra
3.3.4 „Nationes“-Begriffe als musiktheoretische Fachbegriffe: modus gallicus und aere italicus im frühen Trecento
4 Beurteilung gemeinschaftsspezifischer Praktiken
4.1 Unangemessene Lautstärke und undeutliche Artikulation im volkssprachlichen und heidnischen Gesang? Gothi, Teodisci, Uvinedi und Hebrei bei Remigius von Auxerre
4.2 Falsche und richtige, zulässige und unzulässige Texte in der Liturgie: Gallia(e) in Bernos Abhandlung De varia psalmorum atque cantuum modulatione
4.3 Hieronymus de Moravia über eine international erfolgreiche Gesangsmanier der Gallici
4.4 Gallici vs. „monaci“ bei Elias Salomo
4.5 Katzenmusik in der Kirche: Elias Salomo über den Verfall der geistlichen Musik
4.6 Elias Salomo und die Guidonische Hand bei den Provinciales sive Tolosani
4.7 Die Lombardi heulen wie die Wölfe
4.8 Musik der Heimat und Musik der Fremde: Galli, Germani und Teutonici bei Guido de Sancto Dionysio
4.9 Johannes Boens Schamesröte und die zweifelhaften Gesangskünste der Alemanni
5 Symbolisch-illustrative Verwendung von Gemeinschaftsbegriffen
5.1 Brittani in Ps.-Adalbolds Epistola cum tractatu de musica instrumentali humanaque ac mundana
5.2 Umgrenzung des „Heiligen Römischen Reiches“ in der Summa musice
6 Bezug zum weiteren historischen Kontext
6.1 Notker Balbulus, ein anonymer Flüchtling und die Verwüstungen der Nortmanni
6.2 Beispiele von politischer Instrumentalisierung? Apulienses und Calabri bei Guido von Arezzo und Guido de Sancto Dionysio
6.3 Aurelian und das italicum regnum in einer Handschrift um 1400
Abkürzungen
Quellen
Literatur
Handschriftenverzeichnis
Register