Vorwort:
Die Aufgabe, die sich dieser Grundriß stellt, ist, den Jünger der Rechtswissenschaft zu juristischem Denken zu erziehen. Er soll erkennen, daß vor seinem Gewissen sich rechtfertigen muß, wer beansprucht, als gerechter Richter vor sein Volk hinzutreten.
Das Privatrecht, von dem hier gehandelt wird, schafft die Grundlage für das Haben wie den Austausch der Güter; es sichert und ordnet den volkswirtschaftlichen Verkehr. Wächst hiernach das Recht heraus aus den praktischen Lebensbedürfnissen, so muß es sich fortdauernd dem jeweiligen Kulturzustande, den sittlichen Anschauungen wie den anerkennungswürdigen Verkehrsinteressen anpassen. Die Wechselbeziehung zwischen dem Rechte und den sozialen Zuständen offenbart uns der geschichtliche Entwicklungsgang des Rechtes. Dieser beginnt für die heutige Kulturwelt bei dem römischen Privatrecht. Hier sind die Gestaltungen für die Rechte des Einzelnen, die Grundformen für den Rechtsverkehr und damit die Begriffe der Rechte mit solcher Allgemeingültigkeit ausgebildet worden, daß sie den Wert der Wahrheit in sich tragen. Die römischen Juristen haben die Wissenschaft des Rechtes geschaffen und gezeigt: keine vertrauenswürdige Rechtsanwendung ohne festgeprägte Begriffe und ohne die Erkenntnis des systematischen Zusammenhangs aller Rechtsgebilde. Das bloße Erlernen des Gesetzeswortlautes bleibt leeres Wissen ohne Weisheit. Auch das haben der Prätor wie die klassischen römischen Juristen erwiesen, wie sich die Achtung vor dem Gesetze als dem Willen der Volksgesamtheit mit dem Bedürfnis nach einer zeitgemäßen Fortbildung des Rechtes vereinigen läßt. Der neues Recht schaffende Richter darf niemals seinem persönlichen Rechtsgefühl den Charakter der Allgemeingültigkeit beilegen. Als Schirmvogt des Rechtes darf nur anerkannt werden, wer über das Gesetz fortschreitet, indem er den im Volke in der Entwicklung begriffenen, aber noch nicht ausgereiften Rechtsgedanken zu Ende denkt und ihn zu einem anerkennungswürdigen Rechtsgrundsatz ausprägt. Wie diese hohe Aufgabe erfüllt werden kann, das mag der Lernende an dem Entwicklungsgange der römischen Rechtsbildung nachdenklich erschauen; dort sieht er das Vorbild für die Methode, mit der unsere heutige Rechtsprechung von hoher Warte dem Verhängnis der Geldentwertung zu wehren suchte und vermochte.
Der Grundriß gibt die Einführung in das Studium. Die überall mitgeteilten Quellenstellen sollen als Belege dienen und zu tieferem Eindringen auffordern. Ein Beilageheft bringt eine Anzahl wichtiger Stellen, auf die durch umrahmte Ziffern am Rande des Textes verwiesen wird. An ihnen mag zunächst das Verständnis für die erzieherische Bedeutung der Quelleninterpretation erprobt werden. Eine höhere Stufe bezeichnet die moderne Digestenforschung, die sich die Wiederherstellung des ursprünglichen Textes wie der Rechtslehre der klassischen Jurisprudenz zum Ziel gesetzt hat. Hierauf und auf die ausgezeichneten Forschungen in den heutigen deutschen romanistischen Werken ist wiederholt hingewiesen worden. Der für den Anfänger bestimmte Grundriß mußte das Gewicht legen auf die Darlegung der Grundbegriffe in der Gestalt, die sie schließlich im Rechte Justinians und von da aus in der deutschen Rechtswissenschaft gefunden haben. Als solche bilden sie auch die Grundlage des heutigen Bürgerlichen Gesetzbuches. Das im einzelnen zu belegen, gehört nicht hierher; es wird sich beim Studium dieses Gesetzes Werkes ohnedem überall bewähren.
Der Lernende soll sofort das Bewußtsein von der lebenden Kraft der Begriffe und Lehrsätze erlangen; es gilt, ihn innerlich für das wissenschaftliche Studium des Rechtes zu gewinnen. Diesem Zwecke dient der Anschauungsunterricht der sechs Übungsstunden: § 14 über den Rechtsmißbrauch, § 24 über den Umfang der Vertretungsmacht, § 32 über Rechtsprechung, Urteilen und Beweislast, § 39 über den Besitzerwerb, § 55 über Treu und Glauben, § 60 über die Schadenersatzpflicht. Bei diesen Übungen wird auch die unmittelbare praktische Verwendung der römischrechtlichen Grundsätze für das heutige Recht bis in die Rechtsprechung des Reichsgerichtes hinein nachgewiesen.
Author(s): Friedrich Endemann
Series: Grundrisse der Rechtswissenschaft 12
Publisher: Walter de Gruyter & Co.
Year: 1925
Language: German
Pages: 296
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Teil I. Einleitende Lehren
§ 1. Institutionen. Inhalt und Bedeutung des Systems des römischen Privatrechts
Erstes Kapitel. Die allgemeinen Grundbegriffe
§ 2. Das Wesen des Rechts
§ 3. Die Gebiete der Rechtsordnung
§ 4. Entstehung des positiven Rechtes
§ 5. Geltungsbereich der Gesetze
§ 6. Einteilungen des Privatrechts
§ 7. Anwendung und Auslegung der Rechtsnormen
Zweites Kapitel. Übersicht über die geschichtliche Entwicklung des Privatrechts
§ 8. Die vorjustinianischen Rechts quellen
§ 9. Justinians Kodifikation
§ 10. Das römische Recht nach Justinian. Seine Rezeption in Deutschland
Teil II. System des römischen Privatrechtes
Buch I. Personenrecht
§ 11. Recht im subjektiven Sinne. Rechtssubjekt
§ 12. Rechtsfähigkeit der Einzelpersonen. Überblick
§ 13. Freie und Sklaven
§ 14. Übungsstunde. Sklavenrecht. Rechtsmißbraach
§ 15. Cives und peregiini. Status civitatis
§ 16. Status familiae. Patria potestas. Sui et alieni iuris
§ 17. Ehrenminderung. Infamia
§ 18. Handlungsfähigkeit
§19. Juristische Personen
Buch II. Rechtshandlungen und Rechtsschutz
Erstes Kapitel. Entstehving und Endigung der subjektiven Rechte
§ 20. Begriff und Einteilung der Rechtshandlungen. Rechtsgeschäft
§ 21. Wille und Willenserklärung
§ 22. Tatbestand des Rechtsgeschäfts. Nebenbestimmungen
§23. Stellvertretung
§ 24. Übungsstunde. Umfang der Vertretungsmacht
Zweites Kapitel. Schutz der Rechte
§ 25. Grundgedanken des Rechtsschutzes
§ 26. Geschichtlicher Überblick des römischen Zivilprozesses
§ 27. Aktionensystem
§ 28. Untergang der Klagen. Klagverjährung
§ 29. Verteidigung des Beklagten. Exceptio
§ 30. Einwirkung des Prozesses auf das materielle Recht. Urteil
§31. Interdikte; in integrum restitutio
§ 32. Übungsstunde. Rechtsprechung, Urteitfindung, Beweislast
Buch III. Sachenrecht
Erstes Kapitel. Begriff, Einteilung der Sachen
§ 33. Begriff der Sache
§ 34. Einteilung der Sachen nach ihrer natürlichen Beschaffenheit
§ 35. Rechtliche Verschiedenheit der Sachen
Zweites Kapitel. Besitz und Eigentum
§ 36. Übersicht der Sachenrechte
§ 37. Begriff und Arten des Besitzes
§ 38. Erwerb und Verlust des Besitzes
§ 39. Übungsstunde. Wie wird der Besitz erworben ?
§ 40. Schatz des Besitzes
§ 41. Begriff und Alten des Eigentums
§ 42. Erwerb des Eigentums nach ins civile
§ 43. Erwerb des Eigentums nach ius gentium
§ 44. Verlust des Eigentumrechtes
§ 45. Klagen zum Schutze des Eigentums
Drittes Kapitel. Servituten
§ 46. Begriff und Arten der Servituten
§ 47. Begründung und Endigung der Servituten
§ 48. Rechtsschutz der Servituten.
§ 49. Emphyteuse und Superficies
Viertes Kapitel. Pfandrecht
§ 50. Begriff und Arten des Pfandrechtes
§ 51. Bestellung und Endigung des Pfandrechts
§ 52. Ausübung; Rang der Pfandrechte
Buch IV. Obligationenrecht
§ 53. Begriff der Obligation
§ 54. Die wesentlichen Grundsätze des Obligationenrechts; bona fides
§ 55. Übungsstunde über bona fides
§ 56. Die Subjekte der Obligationen
§ 57. Haftung für die Schulden der Gewaltunterworfenen u-id der Geschäftsgehilfen. Noxalhaftung
§ 58. Gegenstände der Schuldverpflichtungen
§ 59. Schadenersatz; causa, culpa, mora
§ 60. Übungsstunde über Schadenersatzhaftung.
§ 61. Kontrakte, pacta. Synallagma
§ 62. Die geschichtliche Entwicklung der Kontraktobligationen
§ 63. Die Realkontrakte
§ 64. Die Verbalkontrakte
§ 65. Die Litteralkontrakte
§ 66. Die Konsensualkontrakte. I. Kauf
§ 67. Die Konsensualkontrakte. IT. Miete, Gesellschaftsvertrag. Mandat
§ 68. Die Quasikontraktc
§ 69. Delikte und Quasidelikte
§ 70. Übertragung des Forderungsrechtes
§ 71. Aufhebung des Forderungsrechtes
Buch V. Familienrecht
§ 72. Begriff und Gebiete des Familienrechts.
§ 73. Die Ehe
§ 74. Das eheliche Güterrecht
§ 75. Vormundschaft
Buch VI. Erbrecht
§ 76. Grundbegriffe der Erbfolge
§ 77. Die geschichtliche Entwicklung der Erbrechtsysteme
§ 78. Die testamentarische Erbfolge. Testamenterrichtung
§ 79. Inhalt des Testamentes
§ 80. Die Intestaterbfolge
§ 81. Das Noterbenrecht
§ 82. Erwerb der Erbschaft. Haftung des Erben. Erbschaftklage
§ 83. Vermächtnisse
Register
Quellenstellen