Müller veröffentlichte 1987 sein Buch als bewusste Reaktion auf das Ende der bzw. die nie eingeleitete Strafverfolgung von Richtern des Volksgerichtshofs. Er begann sein Werk mit den Worten: „Unter den Verbrechen des Nazi-Regimes sind jene der deutschen Justiz weitgehend unbeobachtet und ungesühnt geblieben. Es ist eine beklemmende Tatsache, dass es den Juristen gelungen ist, ihre Vergangenheit zu verschleiern und zu beschönigen.“ (Ingo Müller: Furchtbare Juristen)
Er beschrieb im 1. Kapitel auf wenigen Seiten den Kampf der Justiz zu Beginn des 19. Jahrhunderts um ihre Unabhängigkeit, die mit der Aufklärungsbewegung und dem Kampf um Menschenrechte gegenüber der reaktionären Politik Fürst von Metternichs einherging. Das 2. Kapitel unter der Überschrift „Die forcierte Anpassung“ beschreibt, wie Reichskanzler Otto von Bismarck im Kaiserreich die Justiz politisch instrumentalisierte und mit Gesetzen staatlich kontrollierte.
Mit dem 3. und 4. Kapitel näherte sich Müller seinem eigentlichen Thema: Er beschrieb die Richter der Weimarer Republik, ihr Verhältnis zum aufsteigenden Nationalsozialismus und zur deutschen Wiederaufrüstung. An vielen Einzelfällen zeigte er auf, wie die Weimarer Justiz diese Vorgänge deckte und förderte, auch mit neuen Rechtsbegriffen und Rechtskonstruktionen wie dem „Staatsnotstand“.
Im zweiten Hauptteil (S. 35–202) beschrieb Müller „Die deutsche Justiz 1933 bis 1945“. Er ging aus vom Reichstagsbrand-Prozess über die „Selbstgleichschaltung“ des deutschen Richterbundes, beschrieb die Rolle von Reichsgerichtspräsident Erwin Bumke und dem Staatsrechtler Carl Schmitt dabei, die Schaffung des NS-Staates durch Ausnahmegesetze seit März 1933, die Ausschaltung jeder politischen Opposition durch die noch nicht von NS-Richtern dominierten Gerichte und die Verdrängung von Juden und liberalen Rechtsanwälten aus der Anwaltschaft mit dem Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft.
Sodann beschrieb er die Deformation des Rechts durch die nationalsozialistische Weltanschauung und die Bemäntelung von NS-Terror und NS-Verbrechen durch Einführung neuer Rechtsbegriffe wie „Führertum“, „völkische Ordnung“, „rassische Artgleichheit“, „Schutz der Volksgemeinschaft“ u. a., die Bindung der Beamtenschaft an den Führer statt an das Recht, die systematische Verschärfung des Strafvollzugs durch Einrichtung von Konzentrationslagern, die rassistischen Rechtslehren, die zu den Nürnberger Gesetzen und einer Flut von „Rassenschande“-Prozessen führten, die „totale Entrechtung“ der Juden durch immer neue diskriminierende Rechtsdefinitionen und Strafverordnungen der Juristen, die rechtliche Freigabe der Zwangssterilisation von „Erbkranken“ und der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ in der Aktion T4, die Rolle von Reichsgericht, Volksgerichtshof und Sondergerichten, die er „Standgerichte der inneren Front“ nannte, deren Rolle in den eroberten Gebieten Osteuropas, die Nacht und Nebel-Justiz der spurlosen Entführung und Internierung von potentiellen Widerstandskämpfern, die Konkurrenzsituation zwischen Gerichten und Gestapo, die Militärgerichte im Zweiten Weltkrieg. Im letzten Kapitel 18 dieses Hauptteils beschrieb Müller auch Einzelfälle von richterlichem Widerstand gegen die systematische Rechtsbeugung im NS-Staat.
Author(s): Ingo Müller
Publisher: Fuego
Year: 2014
Language: German
Tags: Nationalsozialismus, Justiz
Inhalt
Erster Teil
Die Vorgeschichte
1. »Zeit zu lärmen«: Deutsche Richter gegen die Reaktion – 9
2. Die forcierte Anpassung – 12
3. Die Richter der Weimarer Republik –16
Die Justiz und die nationalsozialistische Bewegung –21
Der Niedergang des Rechts – 31
Zweiter Teil
Die deutsche Justiz 1933 bis 1945
1. Der Reichstagsbrandprozess – 37
2. Die Selbstgleichschaltung – 48
Der Deutsche Richterbund – 48
Der höchste Richter – 52
Der Staatsdenker – 55
3. Justiz im Ausnahmezustand – 60
4. Hochverrat und Heimtücke: Die Opposition vor Gericht – 65
5. Die »Säuberung« der Anwaltschaft – 77
6. Nazi-Jurisprudenz – 88
7. Die Beamtenschaft als politische Truppe des Führers – 106
8. Vom Strafvollzug zum KZ – 110
9. Der »Schutz der Rasse« – 115
Verweigerte Eheschließungen – 117
Die Auflösung der »Mischehen« – 119
Die Nürnberger Gesetze – 123
»Rassenschande«-Justiz – 125
»Todeswürdige« Liebschaften – 144
Die totale Entrechtung – 149
10. Justiz und Erbgesundheit – 154
11. Die Euthanasieaktion – 161
12. Die »Hüter des Rechts«: Das Reichsgericht als
Rechtsmittelinstanz – 165
13. Gerichtswillkür im Alltag – 175
14. Der Volksgerichtshof – 178
15. Standgerichte der inneren Front: Die Sondergerichtsbarkeit – 193
Die »Künder deutscher Rechtskultur«:
Sondergerichte im Osten – 202
Nacht-und-Nebel-Justiz – 216
16. Urteilskorrekturen: Justiz und Polizei – 220
17. Das Justiz-Offizierskorps: Militärgerichte im Zweiten
Weltkrieg – 232
18. Richterlicher Widerstand – 245
Dritter Teil
Die Fortsetzung
1. Zusammenbruch und Wiederaufbau – 255
2. Die Restauration der Justiz – 263
3. Die geistige Vergangenheitsbewältigung – 277
4. Noch einmal: Die Opposition vor Gericht – 294
5. Die juristischen Fakultäten – 298
6. Die Bestrafung der NS-Verbrecher – 303
Gewollte und »ungewollte« Amnestien – 306
Täter und Gehilfen – 316
Mord und Totschlag – 323
Strafen – 325
»Verhandlungsunfähig« – 329
Späte Einsichten – 334
7. Würdige und Unwürdige:
Die Versorgung der Täter und der Opfer – 340
8. Juristenprozesse – 352
Fall 3 – 352
Die Selbstbewältigung – 357
Die Wende der Rechtsbeugungsrechtsprechung – 371
Die Richterschaft der DDR – 275
9. Die Bestätigung des Unrechts – 381
10. Späte »Ächtung« der NS-Justiz – 388
11. Versuch einer Erklärung – 392
Abkürzungsverzeichnis – 401
Anmerkungen – 405
Namensregister – 441