EINLEITUNG
Die philologisch-historische Arbeit der letzten hundert Jahre hat gezeigt, in wie vieler
Hinsicht die antike Welt von der unsrigen unterschieden ist. Der Eindruck der Fremdheit
wächst zusehends. Infolge des Schwundes religiöser Vorstellungsformen in unseren
Tagen, der sich im Rückgang der noch lebenden antiken Religionen, dem Glauben
der Juden und der Christen, zeigt, wird eine zukünftige Generation die Fremdheit
der antiken Kultur noch stärker empfinden. Um so mehr wird es angezeigt sein,
demgegenüber auch auf bewahrte Vorstellungsweisen, Begriffe und Denkmodelle
hinzuweisen. Derartige Begriffe kommen nicht aus der religiösen Welt, sondern aus
der rationalen, die in Griechenland entdeckt worden ist. Eine solche Konstante im
abendländisch-rationalen Denken, in einem Denken also, das heute die Welt beherrscht,
ist der Begriff des geistigen Eigentums und seiner pathologischen Erscheinungsform,
der literarischen Fälschung.
Die folgende Untersuchung wird zeigen, wie gründlich der Begriff der Fälschung
bereits im Altertum durchdacht worden ist und welche gefährlichen Wirkungen die
literarischen Fälschungen in der anders gearteten antiken Kultur ausgeübt haben,
Wirkungen, die teilweise erst im 19. und 20. Jahrhundert zum Stillstand gekommen
sind.
Jede Fälschung täuscht einen Sachverhalt vor, der den tatsächlichen Gegebenheiten
nicht entspricht. Damit gehört die Fälschung in das Gebiet der Lüge und des
Betrugs. Aus dem Altertum sind Zeugnisse über ganz verschiedene Arten von Fälschungen
bekannt. Philon meint: «Es gibt nichts, das nicht gefälscht wird»1• Zum Beispiel
haben Personen niedrigen Standes ihre Herkunft abgeleugnet und sich als den
Sohn dieses oder jenes Vornehmen oder gar Herrschers ausgegeben. Valerius Maximus
hatinseinenDenkwürdigkeiten ein Kapitel solchenBetrügerngewidmet2 • Ferner wurden
Wertgegenstände nachgemacht und die Nachahmungen als echt verkauft. So fälschte
man WarenJ, Edelsteine4, Edelmetalles, Münzen6 und Kunstgegenstände1. In den
christlichen Jahrhunderten kam als neuer Wertgegenstand die Heiligenreliquie auf,
die in den Augen der Gläubigen alle anderen an Materie gebundenen Güter durch ihre
wunderbaren Kräfte übertraf. Bis in die Neuzeit hinein hat man Gebeine unbekannter
Toter für die segenspendenden Überreste bestimmter Heiliger ausgegeben. Als
Mittel der Beglaubigung dienten unter anderem angebliche Erscheinungen der Heiligen
1 oder Bücher und Inschriften, die man in ihrem Grabe entdeckt haben wollte.
In der vorliegenden Abhandlung sollen diese Formen des Trugs nicht betrachtet
werden, sondern eine weitere Art, die wohl wegen ihrer Wirkungen am wichtigsten
ist: die Fälschung literarischer Werke.
Bisher haben nur wenige versucht, dieses Thema darzustellen1 • Nach H. HAGEN
(1889) hat niemand mehr die Fälschungen der Heiden und Christen gleichermaßen
berücksichtigt. Der Bewältigung dieser Aufgabe stehen nicht geringe Hindernisse
entgegen:
I. Manche Gelehrte bezweifeln überhaupt, daß der Begriff der literarischen Fälschungen
auf bestimmte Schriften des Altertums anwendbar sei, da in der Antike der
Begriff des literarischen Eigentums gefehlt habe und der Begriff der Fälschung den
entfalteten neuzeitlichen Wahrheits- und Wissenschaftsbegriff voraussetze. Man
spricht deshalb gerne bei bestimmten Pseudepigrapha, die unserer Auffassung gemäß
als Fälschtmgen zu bezeichnen wären, von einer «beliebten schriftstellerischen Form».
J. BERNAYS, der diesen Ausdruck gebraucht, meint dazu: «Heiden, Juden und Christen
haben sich derselben [schriftstellerischen Form] bedient, der eine mit größerer,
der andere mit geringerer Gewandtheit, alle aber ohne den leisesten Skrupel zu empfinden;
es schien dies ein bloßes Versteckspiel, bei dem man weder sich selbst noch
anderen als wirklicher Fälscher vorkam»1• Daß ein solches Urteil unbegründet ist,
wird die weitere Darlegung zu zeigen haben. Grundlage für unsere abweichende Beurteilung
ist nicht zuletzt die literarische Kritik des Altertums selbst2 • Der Begriff
der literarischen Fälschung-wie auch der mit diesem verwandte Begriff des Plagiats-ist
nämlich den antiken Literarhistorikern, Heiden wie Christen, durchaus geläufig gewesenJ.
Bei den Christen erhält dieser Begriff in den Kämpfen der verschiedenen Glaubensrichtungen
sogar eine erhöhte Bedeutung und Verschärfung. Zuzugeben ist nur, daß der
Begriff der Fälschung bereits im Altertum oft unrichtig und unzutreffend, oft
auch tendenziös angewendet worden ist. Um hier festen Boden zu gewinnen, bedarf
es zunächst einer genauen Begriffsbestimmung, die bisher nicht gegeben worden
ist, und sodann einer möglichst vollständigen Sammlung und Sichtung sowohl der
erhaltenen Pseudepigrapha wie der antiken Zeugnisse zu diesem Thema.
Oft besitzen wir nur noch die unechte Schrift, und zwar nicht im Autograph des
Fälschers, sondern in einer späteren Abschrift. Äußere Kriterien, die den antiken
Philologen noch zur Verfügung standen, fallen damit in der Regel weg. Nachträgliche
Textveränderungen sind allerdings durch die Prüfung der handschriftlichen
Überlieferung manchmal noch festzustellen. Meistens bleibt man aber auch hier auf
innere Kriterien angewiesen.
2. Die literarische Fälschung ist, wie noch näher auszuführen sein wird, ein Sonderfall
der Pseudepigraphie. Es gibt aber weder eine Bestandsaufnahme der aus dem
Altertum bekannten zahllosen Schriften mit falscher Verfasserangabe, noch hat man
immer genügend geprüft, auf welche Weise ein bestimmtes Pseudepigraphon zu
seiner falschen Herkunftsangabe gelangt ist. Neben der Fälschung gibt es nämlich
noch zahlreiche Gründe, die dafür verantwortlich zu machen sind, daß eine Schrift
zu einem Pseudepigraphon geworden istS. Unter den möglichen Formen der Pseudepigraphie
ist vor allem eine bisher zu wenig beachtet worden, die wir - mangels
einer einfacheren Bezeichnung - als die der mythischen oder
bestimmt habenf'>. Diese Art verdankt ihre Entstehung dem Weltbild
des Homo religiosus und seiner Erfahrung göttlicher Inspiration. Ihr wahres Wesen
kann wissenschaftlich nicht vollständig erfaßt werden, da hier ein anders geartetes
Denken und Erleben vorausgesetzt ist als das der wissenschaftlichen Erfahrung zugängliche?.
3. Manche heidnische und christliche Schrift, die vielleicht als Fälschung zu gelten
hat, ist nur durch Nachrichten des Altertums bekannt. Ob hier der Vorwurf zu Recht
besteht, kann nicht immer festgestellt werden. Ähnliche Schwierigkeiten bereiten
gewisse Fragmente.
4. Bei den pseudepigraphischen Schriften, in denen der vorgetäuschte Schriftsteller
nicht innerhalb des Textes selbst hervortritt oder ausdrücklich genannt wird, kann
oft, wenn andere Zeugnisse fehlen, nicht mehr entschieden werden, ob der Verfasser
oder die Überlieferung die falsche Zuschreibung verschuldet hat. Ist die falsche Zuschreibung
erst während der Überlieferung einer Schrift erfolgt, bleibt es oft unklar,
ob Zufall, Irrtum oder Absicht dazu geführt hat.
5. Und selbst wenn _eine Schrift eindeutig von ihrem Verfasser als ein Pseudepigraphon
verbreitet worden ist, können die Auffassungen über die Absichten, die
dazu geführt haben, auseinandergehen. Das liegt an folgendem: Häufig sind uns
die Bedingungen, unter denen derartige Schriften entstanden sind, unbekannt. Aus
der Beobachtung des allein noch vorhandenen Textes kann aber bisweilen ebensogut
statt auf Fälschung auf eine rhetorisch beabsichtigte freie Erfindung (Fiktion)
(s. u. S. 21 f.) oder auf ein Pseudepigraphon, das aus einem anderen Grunde entstanden
ist (s. u. S. pf.), geschlossen werden. Ja, in manchen Fällen stimmt man
sogar nicht einmal darin überein, ob eine solche Schrift nicht vielmehr überhaupt
echt ist. Man denke an die beiden Briefe an Caesar, die nach der Überlieferung
Sallust geschrieben haben soll, oder an Invektive gegen Cicero. Einige
halten diese Schrift für echt, andere für das Machwerk eines Rhetors1, andere für eine
politische Fälschungz.
6. Schließlich steht einer erschöpfenden Behandlung der literarischen Fälschung
im Altertum die nur schwer überschaubare Fülle eines Materials entgegen, das,
über viele Jahrhunderte verstreut, zeitlich und räumlich oft nur schwer einzuordnen
ist (man denke an die sogenannten Apokryphen des Alten und Neuen Testaments,
die Acta Sanctorum, die Predigtliteratur), in verschiedenen Sprachen überliefert ist
(außer den beiden klassischen sind die orientalischen zu beachten) und überdies
inhaltlich den verschiedensten Gebieten des menschlichen Geistes angehört
Aus diesen Gründen ist es nicht möglich, ein vollständiges Verzeichnis der literarischen
Fälschungen des Altertums vorzulegen. Ebensowenig kann heute schon eine zusammenfassende,
geschweige abschließende Darstellung dieses Themas gegeben
werden. Die vorliegende Abhandlung möchte als ein V ersuch gewertet werden, die
Fälschung als eine der wichtigsten Erscheinungsformen antiker Pseudepigraphie zu
beschreiben. Auf die Nachwirkung einzelner wichtiger Fälschungen soll von Fall
zu Fall kurz hingewiesen werden.
Von den antiken Fälschungen sollen die in griechischer und lateinischer Sprache
überlieferten ausführlicher besprochen werden. Die unechte Literatur des Alten
Orients, der Ägypter, Juden, Syrer, Armenier, Georgier, Kopten, Araber und
Äthiopier ist nur in Auswahl herangezogen worden.
Im allgemeinen bildet das siebte Jahrhundert nach Christus die zeitliche Grenze
für unsere Darstellung. Pseudepigrapha des Mittelalters sind gewöhnlich nur dann
beachtet, wenn sie nach Verfasser oder Inhalt aus dem Altertum zu stammen vorgeben,
wie es bei nicht wenigen Passionsberichten der Fall ist.
Die Fälschungen sind soweit wie möglich nach den Gründen geordnet, die zu
ihrer Abfassung geführt haben. Schon an diesem Punkte könnte Kritik geübt werden.
Nicht ganz zu Unrecht bemerkt 0. SEECK: «Die Gründe aufzufinden, welche einen
Fälscher bei seinen Erfindungen leiteten, ist eine Aufgabe, welche fast niemals ganz
befriedigend gelöst werden kann. Denn man kann dabei nur mit psychologischen
Kombinationen operieren; klare Quellenzeugnisse gibt es nicht»1• Dagegen ist zu
bemerken, daß im Altertum bereits eine ausgedehnte Literatur zu echtheitskritischen
Fragen vorhanden war, deren Reste es zu sammeln und zu prüfen gilt. Sie belehrt uns
über die Absichten der Fälscher im allgemeinen und öfter auch im Einzelfall. Wie
es oft unsicher bleiben muß, ob überhaupt eine Fälschung vorliegt, so kann oft auch
nicht mehr das Motiv genau ermittelt werden. Zudem wirken bei einer Fälschung
nicht selten mehrere Gründe zusammen. Dazu bemerkt E. VON DoBSCHÜTZ: «Bis
zu einem gewissen Grade gehört es zum Charakter der Pseudepigraphen ... , daß die
eigentliche Tendenz sich hinter minderwichtigen Nebenabsichten versteckt. Daher
all diese soviel Streit über ihre Tendenzen und damit zugleich über
ihren Ursprung hervorrufen»1• Nur eine genaue Prüfung jedes einzelnen Pseudepigraphons
kann zu einigermaßen sicheren Ergebnissen führen. Allgemein gilt der
Grundsatz: is Jecit, cui prodest. Die Ordnung der Fälschungen ist nach dem Hauptmotiv
vorgenommen. Auf Nebenabsichten der Fälscher wird verwiesen. Der Verzicht
auf ein Herausarbeiten der Absichten der Fälscher wäre gleichbedeutend mit dem
Verzicht, die Fälschungen zu verstehen, Nur das Motiv erklärt die Fälschung. Wenn
dabei vielfach Fragen offen bleiben und mancher anders urteilen wird, so dürften sich
die großen Linien des Bildes doch nicht wesentlich ändern.
Unmöglich und wohl auch unnötig war es, jeweils die Gründe anzugeben, weshalb
die modernen Kritiker eine Schrift des Altertums als unecht bezeichnet haben2•
Übergangen sind alle die Fälle, bei denen der Vorwurf der Fälschung einmal von
Gelehrten der Neuzeit erhoben, später aber überzeugend widerlegt worden ist.
Zweifelhaftes und Unsicheres wird als solches gekennzeichnet.
Ein Wort ist noch zu verschiedenen Begriffen zu sagen, die aus der jüdisch-christlichen
Glaubenstradition stammen, jedoch nicht ungeprüft in einer wissenschaftlichen
Abhandlung verwendet werden dürfen, da sie religiös-sittliche Wertungen enthalten.
In der literarischen Überlieferung der Juden und der Großkirche begegnen die Begriffe
und . Kanonisch ist eine Schrift, wenn durch theologische
Gründe erwiesen ist, daß sie als von Gott inspiriert zu gelten hat, das heißt eine
echte Offenbarung darstelltJ. Der Weg, der zur Abgrenzung der beiden Schriftgruppen
geführt hat, ist kein anderer als der Vorgang der Entstehung des Alten und
Neuen Testaments. Als christliche Theologen der ersten Jahrhunderte die Frage zu
beantworten hatten, ob eine bestimmte Schrift, die nach Verfasser oder Inhalt eine
Offenbarungsschrift sein sollte, tatsächlich als solche zu gelten habe, wurden sie auch
auf das Problem der literarischen Echtheit aufmerksam. So berühren sich zwar die
beiden Begriffe - mit den literargeschichtlichen der Echtheit
und Fälschung, sie decken sich jedoch nicht mit ihnen4. Bei der Behandlung der
antiken Echtheitskritik der Christen werden wir auf beide Bezeichnungen zu achten
haben5• ferner ist auf zwei andere Begriffe hinzuweisen, die der Geschichte des Christentums
angehören: Heide und Häretiker. Im folgenden wird als Heide ohne jeden
abschätzigen Nebensinn der Nicht-:Jude und Nicht-Christ bezeichnet; als Häretiker
werden diejenigen Christen benannt, die nicht der Großkirche angehört haben, weil
sie eine abweichende Glaubenslehre verkündeten und in der Minderzahl geblieben
sind•