Der Staat schafft und gestaltet Arbeitsmärkte insbesondere in frauendominierten Branchen. Dennoch dürfen Gewerkschaften den Staat in dieser Funktion nicht mit Forderungen adressieren. Das Verbot des politischen Streiks begründen Rechtsprechung und Rechtswissenschaft mit dem Tarifbezug. Die Auseinandersetzung von Hans Carl Nipperdey, Ernst Forsthoff und deren Opponent Wolfgang Abendroth anlässlich des Zeitungsstreiks im Jahr 1952 legte den Grundstein für das deutsche Streikrechtsverständnis. Der Tarifbezug und das Verbot des politischen Streiks sind bis heute auf die Argumente Nipperdeys und Forsthoffs zurückzuführen, obwohl sie im Widerspruch zur grundgesetzlichen Dogmatik stehen. Eine vom Tarifbezug unabhängige Begründung des Streikrechts hingegen ist möglich. Der politische Streik kann vor dem Hintergrund völkerrechtsfreundlicher Auslegung des Grundgesetzes rechtmäßig sein. Ansatzpunkte für eine Umsetzung dieser Neukonzeption des Streikrechts finden sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und Bundesarbeitsgerichts.
Author(s): Theresa Tschenker
Series: Abhandlungen zum deutschen und internationalen Arbeits- und Sozialrecht, Band 12
Edition: 1
Publisher: Duncker & Humblot
Year: 2023
Language: German
Pages: 358
City: Berlin
Tags: streik,politischer streik,arbeitsrecht
Danksagung
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Einführung: Der „politische“ Streik in frauendominierten Branchen
I. Arbeitsbedingungen und Streikpraxis in frauendominierten Branchen
II. Gesetzliche Grundlagen der prekären Arbeitsbedingungen am Beispiel der Altenpflege
III. Rolle des Staats und Verbot des „politischen“ Streiks
Erstes Kapitel: Eingrenzung der Forschungsfragen
Erster Abschnitt: Stand der rechtswissenschaftlichen Diskussion zum Tarifbezug des Arbeitskampfrechts und zum „politischen“ Streik
Zweiter Abschnitt: Begriffe des Arbeitskampfs, Streiks und „politischen“ Streiks
Dritter Abschnitt: Aufbau der Arbeit und Forschungsfragen
Zweites Kapitel: Tarifbezug des Arbeitskampfrechts und Verbot des „politischen“ Streiks
Erster Abschnitt: Grundgesetzliche Gewährleistungen des Streikrechts
A. Geschichte des Streiks und dessen rechtlicher Wertung
I. Die Anfänge des Streiks
II. Streikvereine
III. Erste Legalisierungsversuche
IV. Streiks und Sozialstaat
V. „Politische“ Streiks und Massenstreiks
VI. Weimarer Republik
1. Erster Weltkrieg und „politische“ Streiks der Revolution
2. Stinnes-Legien-Abkommen und ZAG
3. Rechtswissenschaftliche Diskussion um das Arbeitskampfrecht aus Art. 159 WRV
4. Rechtsprechung zum Arbeitskampf
5. Das Weimarer System der staatlichen Zwangsschlichtung
6. Zusammenfassung
VII. Nationalsozialismus
VIII. Entwicklung bis zur Entstehung des Grundgesetzes
1. Streiks im Vorfeld der Beratungen des Parlamentarischen Rats
2. Rechtsprechung und Landesverfassungen zum Arbeitskampfrecht
3. Zusammenfassung
IX. Zwischenergebnis der historischen Betrachtung des Arbeitskampfrechts
B. Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG
I. Bestimmung des Schutzbereichs
1. Subjektiv-teleologische Auslegung: Parlamentarischer Rat zu Art. 9 Abs. 3 GG
a) Der Vorschlag von Eberhard und den Gewerkschaften
b) Konsens über die Gewähr des Streikrechts
c) Streit über den Gewährleistungsumfang des Streikrechts
d) Zwischenergebnis
2. Objektiv-teleologische Auslegung: Funktionen des Streiks
a) Ausgleich der asymmetrischen Verhandlungspositionen
b) Beitrag zur materiellen Umverteilung
aa) Diskriminierungsverbot aufgrund der sozialen Herkunft nach Art. 3 Abs. 3 GG in der bürgerlichen Rechtsordnung
bb) Vergesellschaftung nach Art. 15 GG
cc) Gleichberechtigungsgebot und Verbot der Diskriminierung von Frauen nach Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG
dd) Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 GG
ee) Zwischenergebnis
c) Demokratische Teilhabe
d) Selbstbestimmte Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen
e) Zwischenergebnis
3. Auslegung des Wortlauts
4. Systematische Auslegung
5. Zusammenfassung
II. Rechtfertigung von Eingriffen in das Streikrecht
1. Grundrechte der Arbeitgeber*innen
a) Vermeidung von Streiks
b) Vermeidung von Schäden an Vermögen und Eigentum
c) Tarifautonomie
d) Erfüllung der Pflichten aus dem Versorgungsvertrag
2. Grundrechte Dritter
C. Ergebnis
Zweiter Abschnitt: Unions- und völkerrechtliche Gewährleistungen des Streikrechts
A. Unionsrecht
I. Gewährleistungsgehalt von Art. 28 GRCh
II. Einfluss der Unionsgrundrechte auf das deutsche Arbeitskampfrecht
III. Zwischenergebnis
B. Völkerrecht
I. Regelungen zum Streikrecht
1. Art. 11 EMRK
a) Gewährleistungsgehalt von Art. 11 Abs. 1 EMRK
aa) Rechtsprechung des EGMR
bb) Rechtsvergleich
b) Rechtfertigung von Einschränkungen nach Art. 11 Abs. 2 S. 1 EMRK
aa) Gesetzliche Regelung
bb) Legitimer Zweck
cc) Demokratische Notwendigkeit
c) Zusammenfassung
2. Art. 6 Nr. 4 ESC
a) Gewährleistungsgehalt von Art. 6 Nr. 4 ESC
b) Beschränkung durch Art. G Abs. 1 ESC
c) Zusammenfassung
3. ILO-Übereinkommen Nr. 87
4. Art. 8 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
5. Art. 22 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
6. Zusammenfassung
II. Verhältnis zum deutschen Recht
1. Berücksichtigung von EMRK und Rechtsprechung des EGMR
a) Rezeption der Entscheidungen des EGMR
b) Tragende Verfassungsgrundsätze und Verfassungsidentität
c) Stellungnahme
2. Verbindlichkeit der Europäischen Sozialcharta und der dazugehörigen Spruchpraxis
3. Verbindlichkeit der Spruchpraxis der ILO-Kontrollorgane
4. Verbindlichkeit der UN-Verträge und Spruchpraxis
5. Zusammenfassung
C. Ergebnis
Dritter Abschnitt: Ursprung und Kontinuitäten von Tarifbezug des Arbeitskampfrechts und Verbot des „politischen“ Streiks
A. Ursprung von Tarifbezug des Arbeitskampfrechts und Verbot des „politischen“ Streiks in Rechtswissenschaft und Rechtsprechung der jungen Bundesrepublik
I. Arbeitskampfrechtsprechung und -lehre zwischen Inkrafttreten des Grundgesetzes und erstem Urteil des Bundesarbeitsgerichts
1. Rechtsprechung zwischen 1949 und 1955
2. Rechtswissenschaftliche Literatur zwischen 1949 und 1955
3. Zusammenfassung
II. Der Zeitungsstreik 1952
1. Sachverhalt
2. Die rechtswissenschaftlichen Gutachten
a) Rechtshistorischer Kontext der Gutachten zum Zeitungsstreik
b) Die Abendroth-Forsthoff-Kontroverse zum „politischen“ Streik
aa) Ernst Forsthoff
(1) Staatsrechtslehre und Gewerkschaften
(2) Gutachten zum Zeitungsstreik
(3) Einordnung des Zeitungsstreikgutachtens in Forsthoffs Gesamtwerk
bb) Wolfgang Abendroth
(1) Staatsrechtslehre und Gewerkschaften
(2) Gutachten zum Zeitungsstreik
cc) Stellungnahme: Streik in der pluralistischen und partizipativen Demokratie
(1) Vielfältige Beteiligung an der staatlichen Willensbildung
(2) Keine Verletzung des freien Mandats der Abgeordneten
dd) Zwischenergebnis
c) Das Verbot des „politischen“ Streiks nach Nipperdey
aa) Hans Carl Nipperdey
(1) Arbeitskampfrecht bis zum Zeitungsstreikgutachten
(a) Weimarer Republik
(aa) Rechtmäßigkeit des Arbeitskampfs
(bb) Rechtliche Bewertung des „politischen“ Streiks
(cc) Schadensersatzrecht
(b) Nationalsozialismus
(c) Schaffensphase in der Bundesrepublik vor dem Zeitungsstreik
(d) Zusammenfassung
(2) Gutachten zum Zeitungsstreik
(a) Das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb als sonstiges Recht i.S.v. § 823 Abs. 1 BGB
(b) Das Prinzip der Sozialadäquanz
(3) Stellungnahme
(a) Kritik an der Übertragung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb auf das Arbeitskampfrecht
(b) Kritik an der Einschränkung des Arbeitskampfrechts durch das vermeintliche Verfassungsprinzip der sozialen Marktwirtschaft
(c) Kritik am Prinzip der Sozialadäquanz
(d) Kritik an der historischen Auslegung
(e) Kritik an der Differenzierung von „politischem“ und „arbeitsrechtlichem“ Streik mit normativer Geltung
bb) Alfred Huecks Gutachten zum Zeitungsstreik
cc) Zwischenergebnis
3. Die Urteile zum Zeitungsstreik
a) Erste Instanz
b) Zweite Instanz
c) Dritte Instanz
d) Zusammenfassung
III. Nipperdey und die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Arbeitskampf
1. Der Einfluss Nipperdeys als Präsident des Bundesarbeitsgerichts
2. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 28. Januar 1955
3. Stellungnahme
IV. Zwischenergebnis
B. Kontinuitäten in der weiteren Rechtsprechung
I. Verbot des „politischen“ Streiks
1. Erste Streiks ohne gerichtliche Auseinandersetzung
2. Streik gegen „die Zerschlagung des NDR“ im Jahr 1979
3. Das Bundesarbeitsgericht zum „politischen“ Streik
4. Streik gegen die Reform des § 116 Arbeitsförderungsgesetzes im Jahr 1986
5. Streiks in Ostdeutschland von 1990 bis 1994 und der Poststreik im Jahr 1994
6. Frauenstreik im Jahr 1994
7. Streik gegen Sparpakete im Jahr 1996
8. Gerichtliche Auseinandersetzungen seit dem Jahr 2000
9. Debatten um Feministische Streiks und Klimastreiks
10. Zwischenergebnis
II. Tarifbezug des Arbeitskampfrechts
1. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 21. April 1971
2. Die Urteile des Bundesarbeitsgerichts vom 10. Juni 1980
3. Tendenzen in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts zur Revision des Tarifbezugs des Arbeitskampfrechts
4. Zwischenergebnis
III. Zwischenergebnis
C. Ergebnis
Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
I. Der „politische“ Streik als rechtshistorische Realität
II. Grundrechtsdogmatische Revision des Streikrechts
III. Grundrechtsdogmatische Prüfung des ökonomischen Schadens
IV. Konstruierte Rechtsgüter zu Lasten der Arbeitnehmer*innen
V. Der „politische“ Streik im demokratischen Gefüge des Grundgesetzes
VI. Streik, Sozialstaat und ein möglicher Rechtsprechungswandel
Literaturverzeichnis
Personen- und Stichwortverzeichnis