Die kritischen Untersuchungen der Architektur haben sich bisher fast ausschließlich mit dem visuellen Aspekt der Bauwerke befaßt und ihn als bestimmenden Faktor für die inzwischen zum Allgemeingut gewordene Einordnung und Stilbestimmung der Bauwerke herangezogen.
Gehen wir jedoch von der einfachen Feststellung aus, daß jede architektonische Schöpfung ihrer Definition nach ein "Bauwerk" ist und als solches zwar objektiven Gegebenheiten der Materialbeschaffenheit und Konstruktion unterliegt, jedoch dem Anspruch auf Dauerhaftigkeit und Zweckmäßigkeit gerecht werden muß, so wird offenbar, daß der rein ästhetische Aspekt nur einen unzureichenden Maßstab für eine schon in der Vergangenheit äußerst komplexe schöpferische Tätigkeit darstellt, die sich in unserer Gegenwart und voraussichtlich noch weit mehr in der Zukunft so außerordentlich vielgestaltig entwickelt.
Beim Studium der Architektur der Vergangenheit und der Gegenwart hat mich die Erkenntnis immer wieder besonders beeindruckt, daß diejenigen Bauwerke, die gemeinhin von der Stilkritik und dem allgemeinen Urteil als Muster reinster Schönheit anerkannt werden, auch - hinsichtlich ihrer durch Entstehungszeit und -ort bedingten Bauweise und des Materials - immer das Ergebnis hervorragender Bautechniken sind. Sollte es sich dabei nur um zufällige Übereinstimmungen handeln?
Die Baukunst der Vergangenheit hat sich ausschließlich an statischen Erkenntnissen orientiert, die wiederum das Ergebnis von Überlegung, Erfahrung und vor allem der Einsicht in die Eigenart und Beständigkeit von Strukturen und Material gegenüber äußeren Einflüssen waren.
Das Nachdenken über die Eigenschaften von Struktur und Material einerseits und die Einbeziehung eigener wie fremder Erfahrung andererseits bilden den Wesenskern der Baukunst, sowohl für den Planer als auch für seine mit der Ausführung der Projekte betrauten Mitarbeiter. Und so ergibt sich die Frage, ob nicht hierin jenes geheime Band zu sehen ist, das bei den uns überlieferten Schöpfungen früherer Architektur die vollkommene Übereinstimmung von Form und Substanz ergab.
aus dem Vorwort von Pier Luigi Nervi
Author(s): Hans Erich Kubach
Publisher: Belser
Year: 1974
Language: German
Commentary: Großartiges Standardwerk über die Romanik bzw. romanische Baukunst und Baugeschichte
Pages: 428
City: Stuttgart
Tags: Architekturgeschichte, Baugeschichte, Kunstgeschichte, Romanik, romanische Architektur
Vorwort
Einleitung
Kapitel 1 Vorromanische Architektur
Kapitel 2 Frühromanische Architektur
Kapitel 3 Romanische Architektur in der Blütezeit
Sektion 1 Die Gewölbebasilika
Abschnitt 2 Flat-Top-Basilika
Abschnitt 3 Die reife Formation Südwesteuropas
Kapitel 4 Spätromanische Architektur
Abschnitt 1 Kernland Europa
Abschnitt 2 Spätromanische Architektur - Frühgotische einfache Gewölbebasilika und Flachdachinnenraum
Abschnitt 3 Hallenkirchen und Hallenkirchen
Abschnitt 4 Zentralisierte Ebenenkirche
Kapitel 5 Zivile und militärische Gebäude
Kapitel 6 Kirchenarchitektur und Umwelt
Abschnitt 1 Technische Elemente des Kirchenbaus
Abschnitt 2 Kirchenarchitektur und Kunstwerke
Verweise
Fotoquellen
Nachwort
Anhang
Kathedrale von Assunta